Wörter und Zeichen: Vom Rechnen mit Dolchen und Sternen

Heute geht hauptsächlich darum, die symbolische Notation, die wir schon das letzte Mal für die Zustände unseres Quantenwürfel verwendet haben, nochmal zusammenzufassen, ein paar „intuitive“ Merksätze dafür zu formulieren und ein paar Regeln zu Rechnen damit aufzustellen.

Außerdem bietet sich die Gelegenheit an, ein paar von den typischen Wörtern vorzustellen, die in der Quantenphysik immer wieder herumgeistern, nur, um sie einmal gehört zu haben, und sie im Kontext zu sehen.

Wir haben das letzte Mal von einem Quantenwürfel gesprochen, den wir immer, wenn wir hinschauen, in einem von drei Zuständen beobachten. Als Bezeichnung für diese Zustände haben wir drei „Farben“ verwendet: Rot, Grün oder Blau, abgekürzt als R, G und B.

Etwas technischer (und das habe ich das letzte Mal vermieden), sagt man: „Farbe“ ist eine Observable (engl. (an) observable), also etwas, das man beobachten kann, und ihre drei Eigenzustände (eigen states) sind Rot, Grün und Blau. Das Präfix „Eigen-“ hat dabei eine spezielle, mathematische Bedeutung, über die noch viel zu sagen sein wird – aber nicht heute.

Das wichtigste überhaupt ist: Der Zustand des Würfels selbst ist nicht, was wir beobachten: Wir beobachten immer nur Dinge, die man auch beobachten kann – Attribute des Würfels, eben: Observablen. Was wir dann sehen, sind sogenannte Eigenwerte der Observablen – jeder Eigenzustand hat einen ihm zugeordneten Eigenwert. Der eigentliche Zustand des Würfels, in dem der Würfel sich real befindet, mit dem können wir zwar rechnen, aber sehen können wir nur, was sehbar ist! Heute werden wir aber nicht mit Observablen rechnen und auch nicht mit Eigenwerten – nur ganz allgemein mit Zuständen.

Symbolisieren kann man einen Quantezustand in der sogenannten bra-ket Notation, die der Physiker Paul Dirac erfunden hat (deshalb nennt man sie auch Dirac-Notation). Den Zustand „Rot“ (abgekürzt „R“) notiert man dann etwa als:

\left| R \right\rangle

Zeigt die spitze Klammer nach rechts, ist es ein ket. Man nennt diesen Eigenzustand auch gerne einmal einen Eigenvektor (der Observablen „Farbe“). Der entsprechende bra ist:

\left\langle R \right|

Im Prinzip kann man sich aussuchen, wie man einen ket |\,\rangle  füllt: Man kann hier auch einen Satz hineinschreiben, um einen Zustand zu beschreiben. Der Clou daran ist: Alles, was in einem ket über den Quantenzustand, den er symbolisiert, steht, muss den Quantenzustand komplett beschreiben!

Gemeinsam kann man aus einem bra und einen ket ein bra-ket machen. Das ist eine Art Multiplikation zwischen einem bra und einem ket und sieht so aus:

\left(\left\langle \text{bra}\right|\right) * \left(\left|\text{ket} \right\rangle\right) = \left\langle \text{bra} | \text{ket} \right\rangle

Die Zahl, die dabei herauskommt, ist ein Maß dafür, wie ähnlich sich die beiden Zustände sind – allerdings kann hier auch eine imaginäre Zahl das Ergebnis sein, wofür es keine besonders intuitive Vorstellung gibt.

Wenn bra und ket denselben Zustand symbolisieren, legen wir – willkürlich – fest, dass das Maß ihrer Ähnlichkeit 1 ist. Man sagt, bra und ket seien dann normiert.

\left\langle R | R\right\rangle = 1

Hier darf das Ergebnis niemals eine imaginäre Zahl sein. Das wird sichergestellt, indem man die Beziehung zwischen einem bra und seinem ket genau definiert, und zwar so, dass eine bra-ket Multiplikation eben immer eine reelle Zahl zum Ergebnis hat. Die Schreibweise dafür ist schön.

Ähnlich wie das Minus-Symbol, von dem man in der Schule schon gequält wurde („Minus mal Minus ist Plus“, „Minus mal Plus ist Minus“), verwendet man hier als Symbol für die Beziehung zwischen einem bra und seinem ket ein Kreuz (man kann das Symbol auch Dolch nennen, engl. dagger), die Regeln sind ähnlich wie mit dem Minus. Wendet man den Dolch auf einen bra an, erhält man seinen ket – und umgekehrt.

|R \rangle^\dagger = \langle R|

\left(|R \rangle^\dagger \right)^\dagger = |R \rangle

\langle A|A \rangle = |A \rangle^\dagger * |A \rangle = \text{reelle Zahl}

Besonders interessant ist dann, wenn man spiegelverkehrte bra-kets (zur Erinnerung: Hier kommt eine Zahl heraus und im Allgemeinen ist die Zahl, die bei der bra-ket Multiplikation herauskommt, komplex) miteinander multipliziert:

\langle A|B \rangle * \langle B|A \rangle = \left(|A \rangle^\dagger |B \rangle\right) * \left(|B \rangle^\dagger |A \rangle\right) =
= \left(|A \rangle^\dagger |A \rangle\right) * \left(|B \rangle^\dagger |B \rangle\right) = \text{reell} * \text{reell} = \text{reell}

Das Ergebnis ist also immer eine reelle Zahl, wenn man zwei „gespiegelte“ bra-kets miteinander multipliziert. Ein bra-ket und sein Spiegelbild erfüllen also genau dieselben Voraussetzungen wie ein bra und sein ket!

\langle A|B \rangle^\dagger = \langle B|A \rangle

Der einzige Unterschied, den man hier macht, ist in der Notation: Da ein bra-ket selbst eine Zahl darstellt und keinen Zustand, verwendet man hierfür ein anderes Symbol als den Dolch: Einen Stern!

\langle A|B \rangle^\ast = \langle B|A \rangle

Merke: Stern mit Zahlen, Dolch mit Zuständen – und ein bra-ket ist eine Zahl.


Noch einmal zur Wiederholung: Die Zahl, die bei einer bra-ket-Multiplikation herauskommt, ist ein Maß für die Ähnlichkeit von zwei Zuständen. Bei allen Zuständen, die wir durch einfaches Hinschauen eindeutig voneinander unterscheiden können, soll bei einem bra-ket eine Null herauskommen: Diese Zustände sind sich maximal unähnlich, man sagt: Sie sind orthogonal zueinander:

\left\langle R | G\right\rangle = 0

Eine weitere Definition ist, dass wir jeden Eigenzustand mit einer beliebigen Zahl multiplizieren können. Und: dass wir zwei Eigenzustände addieren können, um einen weiteren Zustand zu erhalten, den unser Quantenwürfel einnehmen kann

Als Beispiel ein beliebiger Zustand, den wir „Z“ nennen (Z wie Zorro, oder Z wie Zustand):

\left| Z \right\rangle = 42*\left| R \right\rangle + \frac{\sqrt{-1}}{2}*\left| G \right\rangle

Überall, wo wir den ket | Z \rangle sehen, können wir ihn also durch den (komplizierten) Ausdruck ersetzen. Das machen wir aus dem Grund, da wir gerne alles in den Farbe-Eigenzuständen ausdrücken möchten, den von denen wissen wir, was bei einem bra-ket herauskommt – nämlich entweder 0 oder 1 (weil wir das so definiert haben).

Beim Rechnen mit Dolchen und Sternen müssen wir allerdings ein bisschen vorsichtig sein. Wenn wir einen ket haben, der mit einer Zahl multipliziert wurde, und wir wollen einen bra daraus machen, dann heißt das soviel wie, dass wir den Dolch auf unseren ket anwenden. Aber was geschieht mit der Zahl? Siehe oben: Stern mit Zahl, Dolch mit Zustand.

a |Z \rangle \rightarrow a^\ast|Z \rangle^\dagger

Ein ket, auf den ein Dolch angewendet wird, wird zum bra und ein bra, auf den ein Dolch angewendet wird, wird zum ket! Das einzige, was zusätzlich interessant ist: Bei einem bra stellt man die Zahl, mit der er multipliziert wird, meistens nicht voran, sondern hintenran. Sieht schöner aus. Das Ergebnis:

a^\ast|Z \rangle^\dagger = \langle Z|a^\ast

Ein beliebiger Zustand „Z“ ist allerdings nicht automatisch normiert – im letzten Beitrag gab es ein Beispiel dafür, wie man das machen kann (also festlegt, dass der Zustand Z mit sich selbst multipliziert 1 ergibt): Im Prinzip machen wir ein bra-ket aus dem Zustand Z, ersetzen Z durch den komplizierten Ausdruck und rechnen aus, um wieviel der Zustand Z „zu lang“ ist. Die Länge eines Zustands ist die Wurzel aus seinem bra-ket. Wenn er doppelt so lang ist, wie er sein sollte (also wenn \sqrt{\langle Z|Z \rangle} = 2), dann definieren wir einfach einen neuen Zustand:

|Z_\text{normiert} \rangle= \frac{1}{2}|Z \rangle .

Warum hat aber unser Quantenwürfel jetzt auf einmal einen weiteren Zustand, Z? Wir hatten doch gesagt, dass wir nur drei Zustände beobachten können, wenn wir hinschauen! Das ist die Sache mit den Quantenregeln: Wenn wir hinschauen und seine „Farbe“ beobachten, sehen wir immer einen Eigenzustand der Farbe. „Z“ ist allerdings kein vierter Eigenzustand der Observablen „Farbe“, sondern eine sogenannte Superposition, eine lineare Kombination der Eigenzustände, d.h. er ist eine Summe der Eigenzustände, die alle mit verschiedenen Zahlen multipliziert wurden.

Eine allgemeine Superposition hat daher immer ein bisschen „Ähnlichkeit“ mit den Eigenzuständen, aber wenn wir hinschauen und die Farbe bestimmen wollen, werden wir immer nur R, G oder B sehen.


Der ganze Formalismus, den wir bis hierher beschrieben haben, dient dazu, vorherzusagen, welche der Farben wir beobachten werden, wenn wir einen Würfel in so einem beliebigen Zustand finden. Im Allgemeinen erhält man hier für jede Farbe eine Wahrscheinlichkeit: Wir können nicht (meistens zumindest) mit Sicherheit sagen, welche Farbe wir sehen werden, wenn unser Würfel in einem beliebigen Zustand Z ist, aber wir können sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir welche Farbe beobachten werden. Wenn wir also hundert Würfel im Zustand Z vorbereiten und dann hinschauen, werden wir ungefähr sagen können, wieviele davon Rot, wieviele davon Grün und wieviele davon Blau sein werden.

Ein Superpositionszustand kann dabei immer durch als eine Kombination von Eigenzuständen einer bestimmten Observable beschrieben werden. Der allgemeinste Superpositionszustand unseres Quantenwürfels, ist eine Kombination aus den drei Eigenzuständen R, G und B, multipliziert mit beliebigen Zahlen, die wir hier x, y und z nennen:

|Z \rangle = x|R \rangle + y|G \rangle + z|B \rangle

Und weil wir’s brauchen werden, machen wir auch gleich einen bra aus dem ket – wir wenden also den Dolch an:

\langle Z| = |Z \rangle^\dagger = x^\ast|R \rangle^\dagger + y^\ast|G \rangle^\dagger + Z^\ast|B \rangle^\dagger = \langle R| x^\ast + \langle G| y^\ast + \langle B| z^\ast

Wenn wir annehmen, dass dieser Zustand Z normiert ist, also dass:

\langle Z|Z \rangle = 1

Was heißt das dann für die Koeffizienten x, y und z? Easy: Wir rechnen es uns einfach aus:

\langle Z|Z \rangle = \left(\langle R|x^\ast + \langle G|y^\ast + \langle B|z^\ast) * (x|R \rangle + y|G \rangle + z|B \rangle\right) =

= x^\ast x \langle R|R \rangle + x^\ast y \langle R|G \rangle + x^\ast z \langle R|B \rangle + y^\ast x \langle G|R \rangle + y^\ast y \langle G|G \rangle + y^\ast z \langle G|B \rangle + z^\ast x \langle B|R \rangle + z^\ast y \langle B|G \rangle + z^\ast z \langle B|B \rangle

Das sieht zwar kompliziert aus, ist aber total einfach: Alle diese bra-kets haben wir ja selbst definiert: Gleiche Eigenzustände im bra-ket ergibt 1, alles andere 0. Was übrig bleibt:

x^\ast x + 0 + 0 + 0 + y^\ast y + 0 + 0 + 0 + z^\ast z = x^\ast x + y^\ast y + z^\ast z

Zusammengefasst haben wir also, wenn wir einen normierten Zustand haben, etwas über die Koeffizienten x, y und z erfahren – nämlich:

x^\ast x + y^\ast y + z^\ast z = 1

weil

\langle Z|Z \rangle = 1

und

\langle Z|Z \rangle = x^\ast x + y^\ast y + z^\ast z


Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Würfel im Zustand Z Rot ist, wenn man hinschaut, erhält man dann, wenn man ein bra-ket zwischen Z und Rot bildet und die Zahl, die da herauskommt (die Ähnlichkeit zwischen Z und Rot) mit der Zahl, die aus dem gespiegelten bra-ket herauskommt, multipliziert – so stellt man sicher, dass das Ergebnis (die Wahrscheinlichkeit) immer eine reelle Zahl ist. Daher dürfen wir nicht auf das Rechnen mit Sternen vergessen!

\langle Z|R \rangle \langle R|Z \rangle = \left(x^\ast \langle R|R \rangle + y^\ast \langle G|R \rangle + z^\ast\langle B|R \rangle\right) \left(x \langle R|R \rangle + y \langle R|G \rangle + z \langle R|B \rangle\right) =

= \left(x^\ast + 0 + 0\right) * \left(x + 0 + 0\right) = x^\ast x

Und so haben wir auch gleich die Interpretation der Koeffizienten x, y und z: Der Koeffizient vor einem Eigenzustand multipliziert mit seinem „Stern“ (seine sogenannte komplexes Konjugat) ist nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit, den Würfel in diesem Eigenzustand zu beobachten!

Beispiel: Der Koeffizient x multipliziert den Zustand Rot, also ist x^\ast x die Wahrscheinlichkeit, den Würfel Rot zu sehen. Diese Koeffizienten nennt man auch Wahrscheinlichkeitsamplituden (probability amplitudes). Das alles gilt aber nur, wenn der Zustand, den man sich ansieht, auch tatsächlich normiert ist! Die sogenannte Normierungsbedingung war die Formel von oben,

x^\ast x + y^\ast y + z^\ast z = 1

und die sagt nicht mehr aus, als dass die Wahrscheinlichkeit, den Zustand in Rot zu sehen plus die Wahrscheinlichkeit, den Zustand in Grün zu sehen plus die Wahrscheinlichkeit, den Zustand in Blau zu sehen, insgesamt 100% beträgt. Das macht auch Sinn: Wir sehen den Würfel, wenn wir hinschauen, immer in einem der drei Eigenzustände. Nichts anderes drückt diese die Normierungsbedingung aus. Und sollte hier etwas anderes herauskommen als eins, dann muss der Zustand entsprechend zurechtgestutzt werden. Dies ist auch der einzige Grund, warum man sich die Arbeit antut, Zustände zu normieren.


Für uns ist diese Erkenntnis ganz praktisch, denn wir können jetzt gleich aus dem Stand heraus einen Quantenwürfel-Zustand aufschreiben, in dem der Würfel in einer Superposition aus Rot und Grün ist, mit einer Wahrscheinlichkeit von 50:50, dass der Würfel Rot oder Grün ist, wenn wir hinschauen.

Die Wahrscheinlichkeit soll also 0.5 sein, die Wahrscheinlichkeitsamplitude ist dann die Wurzel aus 0.5, das einmal für Rot und einmal für Grün – Blau hat eine Wahrscheinlichkeit von null – und fertig:

|Z \rangle = \sqrt{0.5} |R \rangle + \sqrt{0.5} |G \rangle

Was ist der entsprechende bra?

\langle Z| = |Z \rangle^\dagger = \langle R|\sqrt{0.5}^\ast + \langle G|\sqrt{0.5}^\ast

Die Wurzel aus 0.5 ist keine besonders schöne Zahl, aber eine komplexe Zahl ist sie auch nicht – sie ist reell. Aber was genau macht ein Stern mit einer reellen Zahl, nennen wir sie ganz allgemein „a“? Wir wissen von oben, dass immer gilt:

a^\ast a = \text{reell}

Und wir wissen, dass a selbst reell ist. Wenn man eine reelle Zahl mit einer anderen multipliziert, und das Ergebnis ist wieder reell – was bleibt der anderen Zahl dann übrig, außer selbst reell zu sein? Nichts! Wenn man den Stern auf eine reelle Zahl anwendet passiert – nichts!

a^\ast a = aa = a^2\;\;\;\text{wenn a eine reelle Zahl ist}

Der bra aus diesem Beispiel wäre also einfach:

\langle Z| = |Z \rangle^\dagger = \langle R|\sqrt{0.5} + \langle G|\sqrt{0.5}

Man hat also eine schöne Notation, die nichts macht, wenn alles passt: Nur wenn es komplexe Zahlen sind, wird die Sache mit den Dolchen und Sternen etwas, wo man sehr genau sein muss!

Eine Kleinigkeit noch zum Abschluss: Wenn wir ein bra-ket mit seinem „Spiegelbild“ multiplizieren, dann ist das zum Aufschreiben zu lang, deshalb verwendet man diese Abkürzung:

\langle A|B \rangle \langle B|A \rangle = \left| \langle A|B\rangle \right|^2

Zum Vorlesen: Die Wahrscheinlichkeitsamplitude, ein Quantending im Eigenzustand A einer Observablen zu beobachten, wenn es in einem (beliebigen) Zustand B ist, multipliziert mit ihrem komplexen Konjugat (engl. complex conjugate), ist das Quadrat des Betrags (engl. absolute value squared) ebendieser Wahrscheinlichkeitsamplitude – wenn die Zustände normiert sind!

Ein Gedanke zu „Wörter und Zeichen: Vom Rechnen mit Dolchen und Sternen

  1. Pingback: Messen, Wissen, Wirklichkeit: Schrödinger und seine Katze | Quantum Intuitions

Hinterlasse einen Kommentar